Möglicherweise neigt Gott zu Übertreibungen

22. Januar 2024

Eine Januar-Geschichte von Ulrike Meyer-Heieis (Kirchengemeinde Hanstedt)

Ulrike Meyer-Heieis ist Pastorin in der Kirchengemeinde St. Jakobi in Hanstedt
Ulrike Meyer-Heieis ist Pastorin in der Kirchengemeinde St. Jakobi in Hanstedt

Gott ist im Januar immer ein bisschen langweilig. „Was für ein blöder Monat“, denkt er und erinnert sich wehmütig an den glänzenden, glitzernden, wunderbaren Dezember, in dem allein seinetwegen immer so viel Rummel gemacht wird. Ja, die Geburt Jesu, das war damals eine wirklich feine Sache. Er selbst, Gott, der Allmächtige, wollte ganz nah bei den Menschen sein. Und das nicht in großer Pracht in einem Königspalast, sondern ganz einfach in einem Stall mit Tieren und ganz normalen Menschen. Das war ohne Übertreibung eine seiner besten Ideen. Ja, herrlich war das, und noch heute wird diese Geburtsstunde überall auf der Erde gefeiert! Da gibt es Krippenspiele und voll besuchte Gottesdienste, Geschenke und gutes Essen, Familienbesuche, Tannenbaum… früher mit mehr Lametta als heute, aber immerhin.

So, und nun: Auf einmal Januar, alles wird weggeräumt, der harte Alltag kehrt ein. Der Barmherzige runzelt die Stirn und wippt im Sessel sitzend nervös mit seinen Knien. Ein kleiner ängstlicher Engel flüstert seinem Nachbarn leise zu: „Was ist mit dem Chef, ist er krank?“ „Nein“, flüstert der zurück, „es ist Januar, ganz normaler Zustand nach Weihnachten: Gott ist langweilig und deshalb hat er schlechte Laune!“ Doch plötzlich springt der Allmächtige auf, die Wolken wackeln ein bisschen, alle schrecken zusammen und Gott ruft mit donnernder Stimme in die Engelsrunde: „Ich und schlechte Laune – niemals! Alle mal herhören, ich habe eine Idee!“ - „Oje, eine göttliche Idee im Januar, was mag das nur geben?!“ denkt halblaut ein erfahrener Verwaltungsengel. 

„Denkt dran“ donnert Gott weiter, „ich höre alles, was ihr sagt und denkt! Und ich sage euch, es ist eine wunderbare Idee! Die Kirchen sind mir im Januar zu leer, die Menschen vergessen mich nach Weihnachten zu schnell! Es muss ein Wunder her!“ Die Riege der Vorstand-Engel erstarrt, aber Gott strahlt sie alle aufmunternd an: „Was ist? Ein bisschen mehr Begeisterung bitte!“ Da traut sich ein altgedienter Engel vor und antwortet zaghaft: „Allmächtiger, bitte bedenkt, dass Wunder immer schon recht umstritten waren und heutzutage absolut nicht mehr in Mode sind!“ - „Genau“, pflichtet ihm sein Nachbar bei, „heute muss alles erklärbar und wissenschaftlich begründet sein!“

„Papperlapapp“, antwortet Gott und zeigt sich bestens informiert, „Wunder kommen immer noch richtig gut an. Denkt doch an die Filme, die bei den jungen Leuten heute hip sind, die strotzen nur vor wunderlicher Zauberei: Herr der Ringe, Harry Potter, Die fantastischen Tierwesen… und so weiter. Außerdem hat die Pastorin da unten in Hanstedt die Konfirmanden mal gefragt, welche Rolle sie an Jesus in den Bibelerzählungen am besten finden: die als Lehrer, als Heiler, als Politiker oder als Wundertäter? Und die meisten fanden Jesus als Wundertäter am besten! Seht ihr, ein Wunder muss her!“ Die Engelschar stöhnt leise auf.

Ein langgedienter Engel erlaubt sich mit ernster Miene zu bemerken: „Lieber Chef, aber denkt doch mal an das allererste Wunder zurück, dass Jesus damals vollbracht hat. All der viele Wein auf der Hochzeit zu Kanaan! Ein alkoholisches Party-Wunder!! Wie unangebracht!“ Er schüttelt entrüstet den Kopf.

Gott schmunzelt vor sich hin. „Das muss ich Euch erklären, wie das damals war. Mein lieber Sohn Jesus, zu dem ich ja ein ganz besonderes Verhältnis habe, war plötzlich kein Kind mehr und so wurde er zu dieser Hochzeitsfeier eingeladen. Sein Pech war, dass auch seine Mutter Maria Gast auf der Feier war. Ihr könnt euch ja sicher vorstellen, wie sich das so anfühlt als Jugendlicher, mit Mutti auf eine Party gehen zu müssen! Und dann wollte seine Mutter auch noch mit ihm angeben und drängelte dauernd: ‚Zeig doch mal, was Du kannst! Alle sollen sehen, dass Du was Besonderes bist! Zeig doch mal endlich!‘

Naja, das hat Jesus natürlich genervt und dann sind ihm und mir ungefähr gleichzeitig die Hutschnüre geplatzt und wir dachten uns: ‚Wenn schon, denn schon!‘ Und dann haben wir ein bisschen übertrieben. Es sollte ein Zeichen her, dass Jesus ein ganz besonderer Mensch ist mit besonderen göttlichen Talenten? Nichts leichter als das! Die Gastgeber hatten falsch kalkuliert, da war ein akuter Mangel an Wein! Und Jesus hat mit meiner bescheidenen Unterstützung den fehlenden Wein besorgt. Eigentlich nichts besonders, wenn nicht…ja, wenn er nicht übertrieben hätte: Später hat jemand aufgeschrieben, Jesus hätte Wasser zu Wein verwandelt, und zwar 6 Krüge mit jeweils 2 bis 3 Maß. Ein Maß sind ungefähr 40 Liter. Das ergibt – Leute, ich kann rechnen! – insgesamt 600 Liter Wein! Und dann noch eine richtig gute Sorte! Für eine ganz normale Feier – 600 Liter Wein! Wenn das mal kein gutes Wunder war!“ Der Allmächtige lacht sich ins Fäustchen.

„Aber, Herrgottnochmal, das war doch viel zu viel! Reine Angeberei von diesem jungen Bengel! Und musste es unbedingt Wein auf einer Party sein?“ erregt sich nun ein diensthabender Engel aus dem Service-Bereich, „erstens ist das pädagogisch nicht gerade wertvoll und zweitens…ähm zweitens…funktioniert das heute nicht mehr! Was ist mit Jugendschutzgesetz, Lebensmittelvorschriften, Bio-Nachweis und Reinheitsgeboten?“ - „Ich will aber ein Wunder, und zwar noch heute!“ ruft der Barmherzige trotzig aus.

Stille breitet sich aus. Alle schauen betreten zu Boden. Was sehen sie da? Durch die fluffigen Wolken hindurch erblicken sie die Hanstedter Kirche inmitten der Nordheidelandschaft.

Zaghaft flüstert ein Azubi-Engel: „Da war also Mangel an Wein? Woran ist heute Mangel auf der Erde?“ Gott blickt auf und haut dem jungen Geflügelten mit Schwung auf die schmale Schulter, so dass der fast aus allen Wolken gefallen wäre. „Prima! Das ist die richtige Frage. Wollte ich übrigens auch gerade sagen, du schlauer, kleiner Naseweis! Es ist wie bei der Hochzeit zu Kanna: Eigentlich war alles da und trotzdem hatten die Leute Durst, sie spürten Mangel, es fehlte etwas. Was fehlt den Menschen heute?“

Sofort setzt sich Gott mit den Seinen zusammen und sie bilden einen Arbeitskreis zum Thema „Mangel und was man dagegen tun kann!“ Auf einer himmlischen Mind-Map wird zusammengetragen:

Mangel an Frieden wegen der vielen Kriege auf der Welt, Mangel an Sicherheit und Geborgenheit, weil man sich auf nichts verlassen kann. Mangel an Hoffnung und Zuversicht, weil einfach zu viel schief läuft zwischen den Menschen, Mangel an Fröhlichkeit und vor allem Mangel an Gemeinschaft, weil jeder für sich allein ist, das sieht man ja schon am Mitgliederschwund in Vereinen und in der Kirche.

„Oha“, fasst Gott die Ergebnisse in selbstbewusstem Ton zusammen, „Wie bereits erwähnt, da hilft nur ein Wunder! Am besten eins mit richtig viel Wumms dahinter!“ Leichtes Aufstöhnen der Engelschar. „So hat es mein lieber Jesus doch auch gemacht: Er hat übertrieben, um wirklich etwas zu erreichen. Da war massenhaft Liebe im Spiel, sogar für die Feinde, da gab es Heil und Gesundheit auch bei schlimmsten Sorgen. Und dann hat er sein Leben hergegeben für den Frieden! Von allem ganz viel, grenzenlos und übertrieben. Viel hilft viel! So mache ich es auch: ich setze ein Zeichen gegen all den Mangel und das ist dann ein modernes Wunder!“ - „Ja, wie denn, wo denn, was denn?“, rufen die Engel nervös durcheinander.

„Ein Zeichen, ein Wunder, ein neuer Bund muss her, und zwar heute und hier!“ Der Zeigefinger des Allmächtigen deutet nach unten auf die St. Jakobi Kirche. „Wen haben wir denn da? Da sind doch diese Konfirmanden, eine ziemlich wilde Truppe, aber sympathisch! Und Familie Hölzner sehe ich da mit diesen Zwillingen Fynn und Sebastian. Ts, Ts, ts, nicht gerade die stillsten Zeitgenossen, habe ich gehört, aber angenehme Typen und ziemlich klug. Ich schlage vor: eine Taufe!“ Gott klatscht begeistert in die Hände. „In einer Taufe ist alles drin: Durststillung und Mangelbeseitigung in jeglicher Form. Ich schließe einen Bund mit dem selbstbewussten, starken Fynn, der immer ein bisschen zu laut ist und trotzdem im größten Getümmel noch eine Antwort parat hat und hilfsbereit auf andere zugeht. Und ich schließe einen Bund mit dem musikalischen, sensiblen Sebastian, der auf eine Frage stets 15 kreative Antworten hat, die nur so aus ihm raussprudeln. Und mit diesem Bund beseitige ich den Mangel an Frieden, Liebe, Gemeinschaft, Hoffnung, Zuversicht und Fröhlichkeit auf einen Streich. Denn ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ Gott nickt allen und sich selbst begeistert zu.

„Findest Du nicht, er übertreibt wieder mal?“ flüstert ein Engel dem andern zu. „Es ist eben ein Wunder!“ raunt es durch Himmel und Erde.